Auf dem Weg zur Schule ging er noch mal alles Vergangene durch. Sein ganzes Leben, mit all den schönen aber überwiegend dunklen Geschehnissen... Er hatte große Probleme, in der Schule, Zuhause, einfach überall. So viele hatten ihm schon einmal physisch und psychisch wehgetan. So viele... Sein Gesicht verfinsterte sich.
„Du bist ein Nichts!“ „Wieso bist du nur so geworden... was haben wir nur falsch gemacht?“ Die Worte kreisten ihm im Kopf herum, rissen an ihm, schrieen ihn an, verletzten ihn. „Ein Nichts...Versager! Versager! Was suchst du hier?! Geh, verschwinde, hier will dich keiner!“ Tränen stiegen ihm in die Augen. Hier will mich keiner... Er krümmte sich vor Schmerzen, blieb stehen und schrie seinen Frust heraus. Vorbeigehende Passanten sahen ihn erstaunt, überrascht, aber vor allem missbilligend an. Er verbannte sie alle, Passanten wie Worte, aus seinen Gedanken, bannte sie um Frieden zu finden. Aber Frieden finden konnte ernicht. So nicht... aber auf eine andere Art... Er lächelte verträumt.
Still saß der 16-Jährige in der letzten Reihe, jedes Wort ging an ihm vorbei, ohne auch nur die kleinste Bedeutung für ihn zu haben. Gehässig grinsend wandten sich einige seiner Mitschüler zu ihm um, bewarfen ihn, verhöhnten ihn.
So gut es ging ignorierte er sie.
„Sieh dich doch mal an! Keine Freunde... Du bist ein Nichts, ein Versager. Wieso bist du überhaupt hier?“ Etliche weitere Sprüche solcher Art folgten.
Er schwieg, unterdrückte den aufkeimenden Zorn. Beruhige dich. Bald kommt deine Stunde. Die Stunde der Rache.
Es klingelte. Große Pause. Sekundenschnell leerte sich der Saal. Der Lehrer wollte sich der herausströmenden Menge anschließen, zögerte aber als sein Blick auf den Jungen fiel. „Du gehst dann auch bald in die Pause, ja?“ „Natürlich...“ Der Junge hielt inne, sah auf. Dann kramte er langsamer als zuvor in seinem Rucksack. Der Lehrer schüttelte den Kopf und seufzte entnervt. Er klimperte ein letztes Mal mit seinem Schlüsselbund und verließ dann den Raum.
Endlich war der Junge allein. Er zog einen langen, schmalen in Stoff eingewickelten Gegenstand hervor. Langsam wickelte er ihn aus. Eine Klinge blitzte im Licht der Vormittagssonne auf. Er streichelte das Blatt, schwang die Klinge einmal hin und her um die richtige Balance zu finden. Mit leuchtenden Augen steckte er sich das Messer an den Gürtel.
Fröhlich pfeifend ging er hinaus. Draußen lungerten einige Schüler herum, sobald sie ihn sahen verstummten sie kurz und schauten ihn hasserfüllt an. Er schenkte ihnen ein strahlendes und warmes Lächeln, was sie für einen Moment lang aus der Fassung brachte. Als wäre nichts geschehen ignorierten sie ihn und führten ihre Gespräche fort. Wahre Freude überkam ihn in diesem Moment. Er schlurfte zu einer Gruppe von Leuten, darunter viele, die er hasste und Ursprung allen Übels waren. Er ging auf einen Jungen zu und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Fassungslos starrte sein Gegenüber ihn an, dann reagierten alle anderen und umzingelten den Ausschlaggebenden. „Suchst du Streit?“ Der Junge lächelte. „Ja“, meinte er gelassen. Ihre Augen blitzten überrascht und zornig auf. „Du...!“ Der Geschlagene rieb sich die geschundene Stelle und baute sich drohend auf. Die ganze Gruppe erhob ihre Fäuste, bereit auf den gehassten Jungen einzuschlagen. Einige Lehrer standen etwas abseits von der Szene und schauten nur gelangweilt zu.
Innerlich wappnete er sich. Bald bekommen sie das, was sie verdienen, bald... Meine Rache...„Ich zuerst, ihr Trottel!“, schrie der Geschlagene seine Kameraden an und gebot ihnen somit Einhalt. Sie schauten ihn irritiert an und zuckten dann mit den Schultern. „Wie du willst...“ „Na los, hau schon rein!“ „Das wird dem kleinen hässlichen Kerl eine Lehre sein! Dich zu schlagen, Jan... Der Typ wird immer aufmüpfiger! Denkt wohl er sei was besseres...“Jan holte zum Schlag aus. Sein Gegner grinste ihm entgegen, blickte ihm aufrichtig fröhlich entgegen.
Jan schlug zu.
Alle hielten den Atem an. Jans Gegner hielt sein Handgelenk fest und drückte zu. „Leide, so wie ich leiden musste, widerwärtiger Mensch!“ Jan schrie auf. Bevor die anderen reagieren konnten, zog ihr Lieblingsopfer sein Messer hervor und rammte es Jan in den Bauch. Ein Blutrausch überkam den Jungen, Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er wollte nur noch eins: Seinem Hass freien Lauf lassen. Mit einem animalischen Schrei fing er sein tödliches Werk an. Zu geschockt, konnte kaum einer reagieren. Die Lehrer, die den Schülern nur amüsiert zugesehen hatten, rannten mitten in den Tod.
Der Junge hatte Übung im Messerkampf. Seine Opfer starben schnell. Fast schmerzlos. Sie verdienen meine Güte eigentlich gar nicht, dachte er, doch er beließ es dabei, jeden durch einen gezielten Stoß ins Herz oder einem Schnitt durch die Kehle zu töten.
Keuchend stand er da. Die Hände auf die Knie gestemmt, das Messer zur Seite gestreckt. Blut besudelte seine Hände, Finger, das Gesicht und seine Kleidung. „So viele, die ihr Leben heute ausgehaucht haben... So viele... Doch was fühle ich? Genugtuung? Freude? Nein... nur Leere...und Furcht... große Furcht. Es war sinnlos, dies zu tun. Es ist sinnlos! Es ist alles sinnlos!“ Er fing an zu weinen. Er schaute seine Hände angewidert an. „Mörder, nichts weiter als ein widerlicher Mörder bist du... Hier findest du keinen Frieden, keine Freiheit... Hier nicht...“ Er versuchte sich das Blut aus dem Gesicht zuwischen, doch vergeblich. „Hier nicht...“, wiederholte er leise. Langsam erwachte er aus seiner Trance. Er erlangte die Erkenntnis. Er blickte auf die blutrote Klinge, sie schimmerte im dämmrigen Licht. Dann zog er sie sich über die Handgelenke. Warmes Blut floss aus den Wunden. Er lächelte schwach, fuhr sich mit dem Messer über die Kehle. Seine Kräfte würden bald schwinden. Er schleppte sich zu einer weißen Wand und hob die blutende Hand. Er schrieb mit seinem Blut. Als er sein Werk beendet, verabschiedete er sich mit folgenden rätselhaften Worten von der Welt, ehe er ihrem Griff endgültig entschwand: „Für mich hat der Tag nun ein Ende. Vergebt mir“
Leblos sackte der Körper in sich zusammen. Er lag in einer riesigen Blutlache.
Die Fahne draußen hing auf Halbmast. Im Foyer standen einige Tische, verziert mit brennenden Teelichtern und Blumensträußen. Darauf waren Listen und Bilder von den Schülern und Lehrern die auf eine grausame Art und Weise des Lebens beraubt worden waren.Unter einer Fensterfront stand ein separater Tisch, auf diesem befand sich ein Bild und der Name des Amokläufers. Glücklich schaute der Junge einen an, kaum vorstellbar weshalb er diese grausame Tat begangen hat. Ein Zettel lag dort, darauf standen folgende Worte:
„Herr vergib ihm, denn er wusste nicht was er tat.“
Verständnislos und furchterfüllt schwiegen die meisten Schüler, versuchten zu vergessen. Einige hatten Freunde, Kollegen, Bekannte verloren. Vergessen konnte niemand. Die blutverschmierte Wand ermahnte sie alle daran was an jenem schrecklichen Tag passiert war.
Niemand verstand den Sinn dieser Worte, niemand. Das konnte nur der, der sie geschrieben hatte. In blutiger Schrift stand dort: