"Beeilt Euch, wir sind gleich da!", ertönt die donnernde Stimme des Drachenlords und Ihr legt einen Zahn zu. Bald steht Ihr Seite an Seite mit dem Drachenlord in einer hellerleuchteten Halle, in der viele Regale und Schränke stehen. Der Drachenlord breitet die Arme weit aus und seine dunklen Augen funkeln stolz auf. "Dies", er macht eine ausholende Bewegung, " ist die Halle der Kurzgeschichten. Es ist ein Hort voller Wissen, voller Schmerz, Ängste, Freude..." Er wendet sich an Euch und tätschelt Eure Schulter freundlich. "Ich hoffe Ihr findet Gefallen an dieser Halle. Mich ruft mal wieder die Pflicht, wenn etwas ist, ruft einfach nach mir! Oder... fragt die Geister dieser Hallen, wenn Ihr etwas benötigt! Nun denn, gehabt Euch wohl!" Ihr nickt und verabschiedet den Drachenlord, der dieses Mal auf normalen Wege die Halle verließ.
Allein.
„Versager. Du kannst nichts. Du bist nichts“, wieder und wieder ertönten die Worte in seinem Kopf, sie taten ihm weg, trieben ihn in den Wahnsinn. „ Du bist nichts“, genau das hatten sie ihm gesagt, dann haben sie auf ihn eingeschlagen, ihn getreten und gequält. Schweigend verband ihm die Schulkrankenschwester die geschundenen, blutigen Handgelenke. Schließlich fragte sie ihn verwundert wieso er so übel zugerichtet war, doch er schwieg. Das war reine Routine. Ungefähr jeden dritten Tag fingen sie ihn und ließen ihre Wut an ihm aus, dann musste er zur Schwester und schwieg sie an.
Nach einer Weile durfte er gehen. Wie immer setzte er sich unter die Treppe im Keller des Schulhauses und dachte nach.
„So kann es doch nicht weitergehen... Sie können mir nicht auf ewig Schmerz zufügen! Aber wehren kann ich mich auch nicht... Ach, verdammt.“ Er starrte auf seine verbundenen Hände. „Verdammt. Ein ewiger Teufelskreis. Ich mache etwas was ihnen missfällt und sie bestrafen mich dafür... wenn ich mich wehre, stachele ich ihren Hass nur um so mehr an. Verdammt. Ich brauche Hilfe...“, er stützte seinen Kopf in seine Hände, verzweifelt überlegte er.
Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter. Panisch zuckte er zurück, wehrte sich gegen den eisernen Griff, doch vergeblich.
„Hallo Matt. Wie geht es dir...?“ Ein Schauer lief Matt über den Rücken. „Daniel...?“ „Oh, du kennst meinen Namen. Sehr schön.“ Daniel lachte böse. „Du weißt wieso ich hier bin, oder, Matt?“ Matt schluckte und schüttelte den Kopf. „Das solltest du aber!“, grollte Daniel, seine Hand wanderte zu Matts Nacken und packte zu. „Ahh...“, stöhnte Matt und Daniel legte seine andere Hand um die Kehle seines Opfers. Langsam drückte er zu. Ein irres sadistisches Grinsen lag auf seinen Lippen, Matts Blick verschleierte sich. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an, kratzte an den Händen des anderen, versuchte sie wegzuzerren, doch lähmende Kälte breitete sich rasch in seinem Körper aus und schwächte seine Kräfte. „Das tut dir gut, oder, Matt? Soll ich fester drücken? Ja? Na, wenn du es unbedingt willst...“ Matt wollte Schreien, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Er machte Schatten um sich herum aus, hämische Fratzen, die johlend und klatschend seinen Angreifer anfeuerten. Bitte, lass es ein Ende haben!, dachte Matt und dann kam sie : die Ohnmacht. Er erschlaffte und sein Körper glitt geräuschlos zu Boden. Schritte. Viele Schritte, die sich von ihm entfernten, Matts letzter Gedanke war gleich einem Schrei : Er hasste sie für das was sie ihm antaten. Doch nun kam die wohltuende Stille, die Einsamkeit. Er war allein und bis er aufwachte würde eine lange Zeit vergangen sein. Und dann wäre er es wieder:
Allein.
„Sieh dich an“
Langsam wachte er auf. Sein ganzer Körper schmerzte und sein Kopf tat ihm weh. Er saß zusammengekauert in einer Ecke, seine Hand befühlte das geschundene Gesicht. Mühsam bewegte er seine Lippen und murmelte nur ein paar Worte: „ Ich hasse euch... Ich hasse euch für das was ihr mir antut... Ihr werdet es alle noch bereuen...!“ Er nahm seine Hand weg und leckte sich die blutigen Lippen, dann erhob er sich.
„Remo“, knurrte er zu sich selbst, „Remo, wieso lässt du dir das gefallen? Wieso wehrst du dich nicht?“ Seine Augen glühten vor Zorn und Pein. Wütend grollte er sich die Antwort: „ Ganz einfach, weil es immer so weiter geht! Alle hassen mich... und ich hasse sie... Wenn ich es wagen würde IHNEN ein Leid zuzufügen...“ , er lachte verbittert, „ dann würden SIE ALLE mich dafür bestrafen... So oder so, es ist alles sinnlos... ich werde immer der Dumme sein. Und sagen kann ich auch nichts, da mir keiner glaubt. Egal was ich mache, immer wird es einzig und allein meine gottverdammte Schuld sein! Wie ich sie hasse!“ Remo schlug gegen die schmutzige Wand und bleckte die Zähne. Blendender Schmerz durchzuckte ihn under war der Ohnmacht nahe, fasste sich aber noch.
Plötzlich hörte Remo ein Geräusch. Panisch blickte er sich um, ging in Defensivhaltung und stellte sich an die Wand. „Nichts...“ sagte er mit zitternder Stimme, „...absolut Nichts. Du fantasierst, Remo. Es ist keiner hier. Keiner auf diesem trostlosen Pausenhof.“ „Doch. Ich bin hier. Sieh mich an. Sieh dich an. Wie du aussiehst. Blutig. Zerfetzt. Wütend, aber auch traurig. Waren sie es wieder?“ Remo ließ es kalt den Rücken hinunter. Er drehte sich langsam in die Richtung aus der die Stimme kam. Dort stand ein Kerl in Kapuzenshirt und Jeans, das Gesicht verdeckt. „Wer bist du? Wieso bist du hier? Und was willst du?“, zischte Remo misstrauisch. „Ich bin wer ich bin“, lachte sein Gegenüber, „ Freund oder Feind... und mein Name ist nicht von Belang... Ich bin gekommen um dir zu helfen.“ Die Freundlichkeit und Wärme in dieser Stimme widerte Remo an. Er verengte die Augen zu Schlitzen und erwiderte hasserfüllt: „Mir hilft keiner. Alle hassen mich. Sie schlagen, treten, beleidigen mich...und sie schaden meinem Geist, meiner Seele. Du komischer Freak kannst mir gar nicht helfen. Also geh weg...lass mich allein...“ Der Unbekannte schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich lasse dich nicht allein... Ich werde dir helfen. Ich habe dich beobachtet. Was diese Menschen dir antun ist grausam. Ich helfe dir, doch es ist deine Entscheidung wie... „ Remo horchte auf und in diesem Moment spiegelten seine Augen alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige wieder. Auf einmal fiel sein Blick auf die Hände dieses Fremden, der ihm scheinbar helfen wollte. Er legte den Kopf schief, strengte sich an zu erkennen was das war. Dann kam ihm die Erkenntnis. Der Fremde lachte als er den entsetzten Blick sah. „Du hast die Wahl, mein Freund. Entweder du... oder sie!“ Sein Lachen wurde immer lauter, immer verrückter. Remo schüttelte den Kopf. Sein Blick fiel wieder auf die Waffen in den Händen des anderen. Sie waren beide identisch. Beide entsichert und geladen. Nur war in der einen Waffe nur eine Kugel. „Du hast die Wahl!“, meinte der Unbekannte erneut und streckte ihm die Hände entgegen. Remos Augen blitzten auf, dann huschte ein schwaches Lächeln über seine Lippen.
„Ich hab die Wahl...“ Er beugte sich vor und griff nach einer Waffe.
Der Fremde nickte. „Du hast gewählt.“
Remo erwachte. Er saß an einem Tisch in seiner Zelle. 5 Jahre waren vergangen seit der Begegnung mit dem Fremden. Es ging ihm eigentlich ganz gut, die Ärzte waren nett zu ihm, obwohl ihnalle komisch ansahen. Keiner quälte ihn mehr, er war frei... aber nicht frei von Schuld. Er starrte seine Finger an und murmelte: „Du hast die Wahl. Du hast gewählt... alle hassen dich...hilf dir selbst...sieh dich an... sieh dich an! Du bist ein kranker Mensch. Ein bösartiger Irrer, ein Mörder... Du hast sie alle umgebracht! Du hättest dich töten sollen. Du hast die Wahl. Ja, du hattest sie... Und? Hast du gut gewählt? Nein... diese Schuld...nun quält sie mich...ich bin nicht frei... alle hassen mich... Wieso lebe ich? Ich will fliegen...fliegen wie ein Vogel, frei von Schuld...frei von allem... Ich will vergessen...“ Remo rastete aus, vor Enttäuschung und Verzweiflung schlug er auf die Inneneinrichtung ein. Er kratzte an seinen Handgelenken und knurrte ständig: „Mörder! Mörder, sieh dich an... alle hassen dich! Befrei dich von der Schuld... Stirb! Stirb!“ Seine wahnsinnigen Schreie lockten die Wärter an, die ihm etwas spritzten. Dann schlief er ein. Es würde noch eine sehr lange Zeit vergehen, ehe er frei war.
Geldgier
Ich schloss leise die Haustür auf und pirschte hinein. „Hallo?“, rief ich müde. Keine Antwort. Na toll, dachte ich genervt, mal wieder keiner da. Langsam fuhr ich mir mit der Hand durch das Haar. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich hin. Ein tiefes Knurren entrang sich meiner Kehle, als ich ihren Geldbeutel auf dem Tisch entdeckte. So leichtsinnig. Wobei, es war bestimmt sowieso nur wenig darin. Unruhig leckte ich mir meine Lippen. Es war nur wenig darin... „Du bist doch kein schäbiger kleiner Dieb, oder Zach? Lass deiner armen Mutter ihr so hart erarbeitetes Geld. Seit wann stört es dich eigentlich, dass deine sogenannten Freunde sich viel mehr leisten können als du?“ Ein höhnisches Grinsen legte sich auf meine Lippen, meine Finger reckten sich nach dem Beutel, doch mein jämmerliches Gewissen hielt mich zurück. „Sei nicht so egoistisch. Deine Mutter kann doch nichts dafür, dass sie so wenig verdient. Komm schon. Lass es bleiben. Geh lieber in dein Zimmer.“ „SIE kann wirklich nichts dafür. ER ist schuld. ER hat uns verlassen. Ich hasse ihn... Und doch... sie kann auch etwas dafür. Hätte sie einen vernünftigen Job...“ Meine eiskalten Finger schlossen sich fest um den Geldbeutel. „Wenn du das tust, wirst du es bitter bereuen.“ „Ach Quatsch. Das merkt sowieso niemand. Ich brauche das Geld...Wirklich! Ihre Blicke, ihre verachtenden Blicke... in den Geschäften... wenn ich neben ihnen stehe und mir nichts kaufen kann... Es muss sein!“ Mit großer Willensanstrengung öffnete ich den Geldbeutel. 50 Euro. Meine Augen blitzten gierig auf. Dann fiel mein Blick auf einen Zettel. Ich nahm ihn an mich, öffnete ihn und erschrak. Meine Hand erstarrte, ließ den Zettel und den Beutel fallen. Meine Augen weiteten sich, dann sank ich auf die Knie. Meine Augen füllten sich mit Tränen, die Gutmütigkeit meiner Mutter faszinierte und entsetzte mich zugleich. Was dort auf dem Zettel stand... Ich fühlte mich schäbig, richtig dreckig. Ich bin ein schlechter Mensch, ein missgünstiger Sohn, Mit tränenerstickter Stimme flüsterte ich nur: „ Woher wusste sie nur, dass ich dies tun würde?“ Wie konnte sie ahnen, dass mich dieser ewige Geldmangel irgendwann so vereinnahmte? Und vor allem: Wie konnte mein Pate ahnen, dass ich mir so sehr Geld wünschte? Ich wusste es nicht. Und es war mir auch egal. Ich wusste nur eins: Ich würde so etwas nie wieder wagen. Verzweifelt wischte ich mir über das Gesicht. Ich hörte, wie die Haustür sich öffnete und Furcht vor dem kommenden Augenblick überkam mich.
Schuldgefühle
Nachdenklich strich er sich die Haare aus der Stirn. Er befühlte sein Gesicht, seine kalten grauen Augen starrten ruhelos auf sein Spiegelbild. Tiefe Unruhe zeichnete sich auf seinem Gesicht, längst vergessener Schmerz kam wieder zum Vorschein. „Wieso?“, fragte er sein Spiegelbild, „Wieso musste ich wieder an ihn denken? Nach so langer Zeit...“ Doch sein Spiegelbild schaute ihn nur verwirrt an, gehetzt flackerte sein Blick. Unerträgliche Pein, über Verlust und Verrat flammte in ihm auf, nagte an seinem Bewusstsein. Seine Hände krallten sich an das Waschbecken, weiß standen die Knöchel hervor. Er wünschte sich Ruhe, Geborgenheit... und Vergessen. Er seufzte. „Wieso?“, flüsterte er erneut. Er versuchte sich zu beruhigen, die drückende Last der Schuld wieder zu bannen. „Du bist nicht schuld. Es war nur ein Unfall... Nichts als ein tragischer Unfall... der weit, weit zurückliegt...“ Nichts half. Jetzt, nach so langer Zeit, in der er sich damit abgefunden hatte und schließlich vergaß. Jetzt kam sie wieder. Die Schuld und die damit verbundenen Erinnerungen. Und die begleitenden Schmerzen. Doch wieso kamen sie ausgerechnet jetzt wieder zum Vorschein? „Du hast ihn gesehen. Deswegen plagt dich nun wieder die Schuld. Du kannst Schuld nicht verdrängen. Sie lebt weiter in dir, nur siehst du sie nicht. Sie verzehrt dich... langsam, und wenn du es endlich einsiehst, stehst du schon am Rande des Wahnsinns und musst Qualen erleiden. Du hast ihn gesehen.“ „Nein! Nein, er ist tot. Ich habe ihn nicht gesehen. Das ist alles Irrsinn. Irgendetwas hat mich an ihn erinnert. Es geht vorüber. Ich bin nicht schuld.“ „Unglaube und Ignoranz hilft dir wenig... du bist schuld. DU allein hast ihn umgebracht. Sieh es ein, und hoffe auf Vergebung!“ „Nein!“, Wut und Schmerz überkam ihn, er bäumte sich auf, wehrte sich vergebens gegen seine Schuld. Sie log. Mehr nicht. Er war nicht schuld. Und er hatte ihn nicht gesehen, Bram war tot. „Vielleicht ist er gar nicht tot? Wer weiß? Immerhin bist du weggerannt, ehe du dich davon überzeugen konntest, dass er wirklich tot war! Du bist ein Feigling. Stell dich deiner Angst. Deiner Angst schuld zu sein. Wie du gesehen hast, lebt er noch. Stell dich ihm, dann wird alles endlich ein Ende finden. Erkläre deine Tat. Aber renn nicht wieder davon. Bram war dein Freund.
Und er lebt.
Stell dich ihm, um die Schuld zu tilgen. Vergiss nicht schon wieder, oder die Schuld wird wachsen, wachsen bis sie dich verschlingt. Stell dich Bram, was spricht schon gegen ein Wiedersehen... alter Freunde? Mehr als hassen kann er dich doch gar nicht.“ Er schlug die Hände vors Gesicht, kauerte sich auf den Boden und weinte still. Aber nun wusste er endlich, was er zu tun hatte.
Wann hat die Nacht ihr Ende?
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er fuhr sich übers Gesicht und seufzte müde. „Wann hat die Nacht ihr Ende?“, murmelte er vor sich hin. „Dann, wann du willst, dass sie zu Ende ist...“, entgegnete ihm die Stille. „Dann will ich, dass sie bald zu Ende ist“ „Nun denn, dann lass sie bald enden...“ Er schüttelte sich. Bald war es soweit.
Er blickte unter sich. Wasser. Tief, dunkel lag es in seinem Bett. Ruhig verhielt es sich, doch als er einen Stein nahm und ihn hinabwarf, kräuselte sich die Stelle auf die der Stein aufschlug, kleine Wogen auslösend. Er atmete ein. „Wann hat die Nacht ihr Ende...?“, fing er erneut an. Doch diesmal antwortete ihm keiner. „Haben mich alle verlassen? Haben mich alle verraten?“ Schweigen. Trotz funkelte in seinen Augen auf, dann blinde Furcht gemengt mit Hass. Ein ohnmächtiges Lächeln verzerrte sich zu einem wahnsinnigen Grinsen. „Wann hat die Nacht ihr Ende?!“, schrie er in die Dunkelheit, „Dann, wann ich es will!“
Er kletterte das Geländer hoch, um sich oben auf den Rand zu setzen. Seine Beine baumelten im sachten Wind dieser Sommernacht. Er lauschte. Nichts. Die Vögel schliefen schon, die Brücke lag ganz verlassen da. Er blickte nach rechts. Dort blinkten und funkelten die Lichter der Stadt, es gab eben genug nachaktive Menschen. Für sie hatte der Tag kein Ende, eine Nacht gab es im Prinzip nicht.
Er reckte den Hals und schloss die Augen für einen kurzen Moment. In diesem Moment lebte er sein Leben noch einmal. Alle dunklen Ereignisse überkamen ihn, wenige erfreuliche darunter. Aber auch schöne Erinnerungen gab es. Nur leider überwiegten die Schmerzhaften.
Er fuhr sich mit der Rechten an den Hals, mit der anderen hielt er sich am Geländer fest. Etwas glitzerte in seiner Hand auf. Es war ein kleiner silberner Anhänger. Vorsichtig schloss er seine Hand um den Anhänger zu einer Faust, dann streckte er den Arm aus. Behutsam öffnete er die Faust, der Anhänger fiel. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er endlich mit einem leisen Platschen die Wasseroberfläche durchdrang.
„Du hast mir Schutz und Trost versprochen in meinen dunkelsten Stunden. Doch alles was ich erhielt war Verzweiflung und Angst“
„Wann hat die Nacht ein Ende? Wann hat das Leben ein Ende?“
„Dann, wann du es wünschst...“, antwortete ihm alles Dunkle in ihm.
Er lachte. „Genau, dann, wann ich es wünsche...“
Er richtete sich auf.
Stellte sich aufs Geländer, balancierte darauf.
Breitete die Arme gleich Flügeln aus.
Schloss die Augen. Atmete tief ein.
Machte sich bereit.
Und sprang...
...eine Hand packte ihn am Kragen, zog ihn grob zurück. Unsanft fiel er hinter das Geländer auf den harten Boden.
Furchtsame Augen starrten auf den jungen Mann hinab. „Geht es dir gut?“, fragte der Mann ihn. Hinter ihm standen noch mehr Leute, entsetzt und verwundert über das Verhalten des jungen Mannes, der sich von der Brücke stürzen wollte.
Eine Person zückte ein Handy, wiederum eine andere schwenkte mit dem Strahl einer Taschenlampe herum, darauf bedacht, den Suizidgefährdeten nicht zu blenden.
Gequält blickte er in die Gesichter seiner vermeintlichen Retter. Trauer stahl sich in seinen Blick, Wut, aber auch eine gewisse Erleichterung.
„Wann hat die Nacht ein Ende?“, wisperte er und schloss mit einem Lächeln in seinem Gesicht die Augen.
Als die Polizei und der Notarzt eintrafen, war es bereits zu spät. Der junge Mann, der sehr enttäuscht von seinem Leben war, hatte eine Überdosis Morphium im Blut und starb daran. Für ihn hatte die Nacht ein Ende gefunden.
Wann hat der Tag ein Ende?
Auf dem Weg zur Schule ging er noch mal alles Vergangene durch. Sein ganzes Leben, mit all den schönen aber überwiegend dunklen Geschehnissen... Er hatte große Probleme, in der Schule, Zuhause, einfach überall. So viele hatten ihm schon einmal physisch und psychisch wehgetan. So viele... Sein Gesicht verfinsterte sich.
„Du bist ein Nichts!“ „Wieso bist du nur so geworden... was haben wir nur falsch gemacht?“ Die Worte kreisten ihm im Kopf herum, rissen an ihm, schrieen ihn an, verletzten ihn. „Ein Nichts...Versager! Versager! Was suchst du hier?! Geh, verschwinde, hier will dich keiner!“ Tränen stiegen ihm in die Augen. Hier will mich keiner... Er krümmte sich vor Schmerzen, blieb stehen und schrie seinen Frust heraus. Vorbeigehende Passanten sahen ihn erstaunt, überrascht, aber vor allem missbilligend an. Er verbannte sie alle, Passanten wie Worte, aus seinen Gedanken, bannte sie um Frieden zu finden. Aber Frieden finden konnte ernicht. So nicht... aber auf eine andere Art... Er lächelte verträumt.
Still saß der 16-Jährige in der letzten Reihe, jedes Wort ging an ihm vorbei, ohne auch nur die kleinste Bedeutung für ihn zu haben. Gehässig grinsend wandten sich einige seiner Mitschüler zu ihm um, bewarfen ihn, verhöhnten ihn.
So gut es ging ignorierte er sie.
„Sieh dich doch mal an! Keine Freunde... Du bist ein Nichts, ein Versager. Wieso bist du überhaupt hier?“ Etliche weitere Sprüche solcher Art folgten.
Er schwieg, unterdrückte den aufkeimenden Zorn. Beruhige dich. Bald kommt deine Stunde. Die Stunde der Rache.
Es klingelte. Große Pause. Sekundenschnell leerte sich der Saal. Der Lehrer wollte sich der herausströmenden Menge anschließen, zögerte aber als sein Blick auf den Jungen fiel. „Du gehst dann auch bald in die Pause, ja?“ „Natürlich...“ Der Junge hielt inne, sah auf. Dann kramte er langsamer als zuvor in seinem Rucksack. Der Lehrer schüttelte den Kopf und seufzte entnervt. Er klimperte ein letztes Mal mit seinem Schlüsselbund und verließ dann den Raum.
Endlich war der Junge allein. Er zog einen langen, schmalen in Stoff eingewickelten Gegenstand hervor. Langsam wickelte er ihn aus. Eine Klinge blitzte im Licht der Vormittagssonne auf. Er streichelte das Blatt, schwang die Klinge einmal hin und her um die richtige Balance zu finden. Mit leuchtenden Augen steckte er sich das Messer an den Gürtel.
Fröhlich pfeifend ging er hinaus. Draußen lungerten einige Schüler herum, sobald sie ihn sahen verstummten sie kurz und schauten ihn hasserfüllt an. Er schenkte ihnen ein strahlendes und warmes Lächeln, was sie für einen Moment lang aus der Fassung brachte. Als wäre nichts geschehen ignorierten sie ihn und führten ihre Gespräche weiter. Wahre Freude überkam ihn in diesem Moment. Er schlurfte zu einer Gruppe von Leuten, darunter viele, die er hasste und Ursprung allen Übels waren. Er ging auf einen Jungen zu und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Fassungslos starrte sein Gegenüber ihn an, dann reagierten alle anderen und umzingelten den Ausschlaggebenden. „Suchst du Streit?“ Der Junge lächelte. „Ja“, meinte er gelassen. Ihre Augen blitzten überrascht und zornig auf. „Du...!“ Der Geschlagene rieb sich die geschundene Stelle und baute sich drohend auf. Die ganze Gruppe erhob ihre Fäuste, bereit auf den gehassten Jungen einzuschlagen. Einige Lehrer standen etwas abseits von der Szene und schauten nur gelangweilt zu.
Innerlich wappnete er sich. Bald bekommen sie das, was sie verdienen, bald... Meine Rache...„Ich zuerst, ihr Trottel!“, schrie der Geschlagene seine Kameraden an und gebot ihnen somit Einhalt. Sie schauten ihn irritiert an und zuckten dann mit den Schultern. „Wie du willst...“ „Na los, hau schon rein!“ „Das wird dem kleinen hässlichen Kerl eine Lehre sein! Dich zu schlagen, Jan... Der Typ wird immer aufmüpfiger! Denkt wohl er sei was besseres...“Jan holte zum Schlag aus. Sein Gegner grinste ihm entgegen, blickte ihm aufrichtig fröhlich entgegen.
Jan schlug zu.
Alle hielten den Atem an. Jans Gegner hielt sein Handgelenk fest und drückte zu. „Leide, so wie ich leiden musste, widerwärtiger Mensch!“ Jan schrie auf. Bevor die anderen reagieren konnten, zog ihr Lieblingsopfer sein Messer hervor und rammte es Jan in die Brust. Ein Blutrausch überkam den Jungen, Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er wollte nur noch eins: Seinem Hass freien Lauf lassen. Mit einem animalischen Schrei fing er sein tödliches Werk an. Zu geschockt, konnte kaum einer reagieren. Die Lehrer, die den Schülern nur amüsiert zugesehen hatten, rannten mitten in den Tod.
Der Junge hatte Übung im Messerkampf. Seine Opfer starben schnell. Fast schmerzlos. Sie verdienen meine Güte eigentlich gar nicht, dachte er, doch er beließ es dabei, jeden durch einen gezielten Stoß ins Herz oder einem Schnitt durch die Kehle zu töten.
Keuchend stand er da. Die Hände auf die Knie gestemmt, das Messer zur Seite gestreckt. Blut besudelte seine Hände, Finger, das Gesicht und seine Kleidung. „So viele, die ihr Leben heute ausgehaucht haben... So viele... Doch was fühle ich? Genugtuung? Freude? Nein... nur Leere...und Furcht... große Furcht. Es war sinnlos, dies zu tun. Es ist sinnlos! Es ist alles sinnlos!“ Er fing an zu weinen. Er schaute seine Hände angewidert an. „Mörder, nichts weiter als ein widerlicher Mörder bist du... Hier findest du keinen Frieden, keine Freiheit... Hier nicht...“ Er versuchte sich das Blut aus dem Gesicht zuwischen, doch vergeblich. „Hier nicht...“, wiederholte er leise. Langsam erwachte er aus seiner Trance. Er erlangte die Erkenntnis. Er blickte auf die blutrote Klinge, sie schimmerte im dämmrigen Licht. Dann zog er sie sich über die Handgelenke. Warmes Blut floss aus den Wunden. Er lächelte schwach, fuhr sich mit dem Messer über die Kehle. Seine Kräfte würden bald schwinden. Er schleppte sich zu einer weißen Wand und hob die blutende Hand. Er schrieb mit seinem Blut. Als er sein Werk beendet, verabschiedete er sich mit folgenden rätselhaften Worten von der Welt, ehe er ihrem Griff endgültig entschwand: „Für mich hat der Tag nun ein Ende. Vergebt mir“
Leblos sackte der Körper in sich zusammen. Er lag in einer riesigen Blutlache.
Die Fahne draußen hing auf Halbmast. Im Foyer standen einige Tische, verziert mit brennenden Teelichtern und Blumen. Darauf waren Listen und Bilder von den Schülern und Lehrern die auf eine grausame Art und Weise des Lebens beraubt worden waren.Unter einer Fensterfront stand ein separater Tisch, auf diesem befand sich ein Bild und der Name des Amokläufers. Glücklich schaute der Junge einen an, kaum vorstellbar weshalb er diese grausame Tat begangen hat. Ein Zettel lag dort, darauf standen folgende Worte:
„Herr vergib ihm, denn er wusste nicht was er tat.“
Verständnislos und furchterfüllt schwiegen die meisten Schüler, versuchten zu vergessen. Einige hatten Freunde, Kollegen, Bekannte verloren. Vergessen konnte niemand. Die blutverschmierte Wand ermahnte sie alle daran was an jenem schrecklichen Tag passiert war.
Niemand verstand den Sinn dieser Worte, niemand. Das konnte nur der, der sie geschrieben hatte. In blutiger Schrift stand dort: